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Beitrag vom 22.01.2008
Antisemitismus in Deutschland
Anna Tremper
Antisemitismus - leider keine Seltenheit in Deutschland. Wie brutal er sich noch immer äußert, zeigt der Überfall auf jüdische Schüler am 16.01.2008 in Berlin Mitte.
Am 16.01.2008 attackierten mehrere Punks vier SchülerInnen zwischen 15 - 17 Jahren. Die SchülerInnen kamen gerade von der Jüdischen Oberschule und befanden sich auf dem Heimweg, als sie an der Oranienburger Straße Ecke Große Hamburger Straße von den Männern angegriffen und beleidigt wurden. Die Punks beschimpften sie als "Scheißjuden" und "Drecksjuden". Anschließend hetzten sie einen ihrer Hunde auf die Jugendlichen. Der Hund verfolgte einen 15-Jährigen, der sich durch die Flucht in eine Bäckerei vor der Attacke retten konnte. ZeugInnen riefen sofort die Polizei wodurch vier Tatverdächtige noch vor Ort festgenommen werden konnten. Zwei der Täter wurden bei einer Gegenüberstellung von den Jugendlichen identifiziert. Gegen den 27-jährigen Florian F. und einen 31-Jährigen wurde Haftbefehl erlassen.
Reaktionen auf den antisemitisch motivierten Ãœbergriff
Die Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch verurteilte den Übergriff aufs Schärfste: "Eine solche Tat, noch dazu unter Zuhilfenahme eines Hundes, ist abscheulich und zeigt, dass die Gewaltbereitschaft auch unter inländischen Tätern in Deutschland hoch ist."
Der regierende Bürgermeister Klaus Wowereit bezeichnete den Vorfall als unerträglich und fügte hinzu: "Angesichts der deutschen Geschichte sind wir dankbar, dass sich in unserer Mitte wieder jüdisches Leben entfaltet." Doch dass jüdisches Leben sich eben noch immer nicht angstfrei in Berlin entwickeln kann, zeigen auch die neuesten Meldungen. Das Bundeskriminalamt sprach am 21.01-2008 gegenüber den jüdischen Gemeinden in ganz Deutschland und der israelischen Botschaft eine Warnung vor terroristischen Anschlägen aus.
Nach Medienberichten hat das BKA vier Araber beobachtet, die mehrere Objekte in Berlin-Mitte ausspähten. Die vorhandenen Sicherheitsvorkehrungen vor jüdischen Einrichtungen werden nun überprüft und gegebenenfalls nachgebessert. Vor dem jüdischen Museum, dem jüdischen Gemeindehaus und der Synagoge an der Oranienburgerstraße sollen derzeit Betonsperren errichtet werden.
Der Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, warnt jedoch vor Panikmache: "Eine besondere Sicherheitslage nur für Berlin gibt es nicht". Und weiter sagte er: "Der Angstpegel wird geschürt." Zudem seien sich, so Kramer, die Mitglieder der jüdischen Gemeinde der permanenten Bedrohung bewusst. Die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Berlin, Lala Süsskind, äußert sich ähnlich: "Drohungen kommen fast täglich und gehören für uns Juden leider zur Normalität".
Antisemitismus unter allen politischen Orientierungen zu finden
Linke und Antisemitismus, das will auf den ersten Blick nicht so recht zusammenpassen, doch der Rechtsextremismusexperte des antifaschistischen Pressearchivs, Toni Peters, äußerte gegenüber dem Tagesspiegel: "Richtig überrascht hat mich dieser Vorfall nicht". In der weitläufigen und vielfältigen Punkszene gebe es einen sehr kleinen Teil, der die Punkattitüde mit Diskriminierung verwechsele und politisch rechts eingestellt sei. Linke mit rechter Tendenz sind demnach kein Novum.
Die jüngsten Ereignisse führen vor Augen, dass Antisemitismus nach wie vor ein gravierendes Problem der deutschen Gesellschaft ist. Antisemitische Tendenzen gab es schon seit längerem auch auf der Seite der radikalen Linken. Auch bei der RAF traten antisemitische Tendenzen deutlich hervor. Allen voran bei Ulrike Meinhof, die anlässlich der Olympiade 1972 äußerte, die israelische Regierung habe ihre Sportler "verheizt wie die Nazis die Juden". Der jüdisch-amerikanische Journalist und European Fellow an der FU, Benjamin Weinthal, macht in seinem Artikel "Linker Antisemitismus" darauf aufmerksam, dass Antisemitismus gerade heute nicht länger ein Problem der Rechtsextremen, sondern häufiger auch unter gemäßigten Linken zu finden ist.
Antisemitismus in Zahlen
Wie es um den Antisemitismus in Gesamtdeutschland bestellt ist, zeigt die Langzeitstudie "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" (GMF) der Universität Bielefeld, die noch bis 2012 laufen wird. Es handelt sich dabei um eine "Empirische Langzeitbeobachtung menschenfeindlicher Einstellungen in der Bevölkerung". Es werden verschiedene Arten von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit untersucht, darunter auch Antisemitismus. Die Ergebnisse dieser Studie sind Teil der Ausstellung "Bewachter Alltag: Antisemitische Mentalitäten - Ausschnitte einer verschobenen Normalität" in den Räumen der Amadeu Antonio Stiftung und geben Anlass zum Nachdenken. So meinen laut dieser Studie im Jahre 2004 ganze 21,5 % der Befragten "Juden haben in Deutschland zuviel Einfluss" und 17,4 % glauben "durch ihr Verhalten sind die Juden an ihren Verfolgungen mit schuld". Wobei die Zahlen 2006 mit 14,1 und 10 % rückläufig sind. Der "israelbezogene Antisemitismus", bei dem die Abneigung gegenüber Juden mit der Politik Israels begründet wird, fand bei 44% Zuspruch. 50% stellten die Solidarität einheimischer Juden zu Deutschland in Frage und 65% zeigten eine Abwehrhaltung gegenüber der Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Deutschen an den Juden. Über 80% der Befragten äußerten sich zudem kritisch zur Palästinenserpolitik Israels. Zudem wird in der Studie konstatiert, dass der Vergleich der israelischen Politik mit dem Naziregime längst Teil des öffentlichen Diskurses ist. Eine Tendenz, die endlich wachrütteln sollte!
Mögliche Ursachen für eine rechtsradikale bzw. antisemitische Einstellung
Eine Schweizer Studie, die im Rahmen des Projekts "NFP 40+ Rechtsextremismus - Ursachen und Gegenmassnahmen" durchgeführt wurde, befasst sich mit den Familienmustern, die rechtsextreme Jugendliche schildern und mit als ursächlich für ihre politische Einstellung gesehen werden können. Die ForscherInnen fanden drei charakteristische Familienmuster. Beim ersten Muster übernehmen die Jugendlichen die rechte Einstellung von ihren Eltern oder Großeltern. Das zweite Erklärungsmuster beschreibt eine Ohnmachtsehrfahrung, ausgelöst durch Gewalt oder Missachtung. Eine weitere mögliche Ursache ist, dass die Jugendlichen den Eindruck haben, von ihren Eltern nicht genügend wahrgenommen zu werden. Ergebnisse die zeigen, dass die Grundlagen für menschverachtende Einstellungen mitunter schon in jungen Jahren gelegt werden. Dies zu verhindern ist schwierig, doch es ist möglich später noch zu intervenieren, durch das Erkennen biografischer Ereignisse, die mit der faschistischen Einstellung verknüpft sind.
Informationen zu Initiativen gegen Rechts:
Amadeu Antonio Stiftung: www.amadeu-antonio-stiftung.de
Mut gegen rechte Gewalt: www.mut-gegen-rechte-gewalt.de
Laut gegen Nazis: www.lautgegennazis.de
Berliner Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus: www.berlin.de
(Quellen: Zentralrat der Juden in Deutschland 17.01.2008, Tagesspiegel 18.01.2008, Taz 06.10.2007, Welt-Online 21.01.2008, Berliner Zeitung Online 21.01.2008, ddp 18.01.2008)